Leseprobe: UTE ALAND „DIE PIANISTIN“

Ute Aland
DIE
PIANISTIN
Autobiografischer Roman
.

Die Bibelzitate sind verschiedenen, im Folgenden aufgeführten
Übersetzungen entnommen und teilweise nur sinngemäß wiedergegeben:
Lutherbibel, revidierter Text 1984,
© Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart:
Hoffnung für alle, Copyright © 1983, 1996, 2002 by Biblica, Inc.®,
Verwendet mir freundl. Genehmigung von Fontis – Brunnen Basel.
Revidierte Elberfelder Bibel © 1985/1991/2008 SCM R.Brockhaus im
SCM-Verlag GmbH & Co. KG, Witten.
Das Lied „Ich bin ein Gast auf Erden“ (in Ausschnitten zitiert auf S. 206)
wurde 1666/67 von Paul Gerhardt gedichtet.
Es findet sich im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 529.

© 2016 Brunnen Verlag Gießen
www.brunnen-verlag.de
Lektorat: Konstanze von der Pahlen
Umschlagfoto: Shutterstock
Umschlaggestaltung: Daniela Sprenger
Satz: DTP Brunnen
Druck: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-7655-0944-5
Verstehen kann man das Leben nur rückwärts.
Leben muss man es
vorwärts.
Søren Aabye Kierkegaard (1813–1855),
dänischer Philosoph, Theologe und Schriftsteller
Wenn du betest,
sei gewiss,
dass der Allmächtige dein Flehen hört.
Er erhört dein Gebet um Demut.
Oder Gotteserkenntnis
oder ein reines Herz.
Aber dann erschrick nicht
über die Demütigungen,
die du erleiden wirst
um der Demut willen.
Und fürchte dich nicht davor,
in die Abgründe der Tiefe Gottes zu stürzen
um der Gotteserkenntnis willen.
Und harre aus im Glutofen Gottes
um der Reinheit willen.
Darum:
Wenn du um Frucht bittest,
hab keine Angst, wenn das Weizenkorn
seinen Schutz verliert.
Seine Substanz.
Und seine Gewissheiten.
Denn es wird aufgehen, dem Tode nahe.
Und wird seinen zerbrechlichen Keim in die
Finsternis hinausschieben.
Denn das entspricht der göttlichen Ordnung:
Es muss sterben,
damit es Frucht bringt.
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1.
DER ABGRUND
Es gibt exakt vier Möglichkeiten, um zu erklären, was passiert ist.

Meine Freunde meinen, ich sollte mir keine derartigen Gedanken
machen. „Hör auf, auf deinen Verstand zu zählen“, sagen sie
mir. „Lass einfach dein Herz sprechen.“ Aber sie wissen ja auch
nicht, was mein Herz mir sagt, seit jenem Tag. Würde ich allein auf
mein Herz hören, wäre ich schon lange von einer Brücke gesprungen.
Überhaupt – wieso sollte das Herz besser sein als das Hirn? Das
wäre ja so, als müsste ich mich entscheiden, welches Bein mir
wichtiger ist: das rechte oder das linke.

Ich verstehe nicht, wieso manche Christen sich so viele Denkverbote
auferlegen. Aber je länger meine Verzweiflung dauert, desto
mehr erkenne ich, dass sie sich nicht nur Denkverbote auferlegen,
sondern auch „Fühlverbote“. Es gibt Gefühle, die halten viele
Christen für Sünde. Verzweiflung zum Beispiel. Traurigkeit, Wut.
Oder Zorn. Ich aber kann diese Tabus nicht akzeptieren, denn alle
Gefühle gehören zur Grundausstattung des Menschen und sogar
zum Repertoire Gottes. Ein Glaube, bei dem ich große Teile meines
Menschseins abschalten muss, um den Glauben selbst nicht in
Gefahr zu bringen, so einem Glauben vertraue ich mein Leben
nicht an. Ein Glaube, den ich vor Zweifeln schützen muss oder vor
der Realität, so einen Glauben will ich nicht. Denn für mich ist
Glauben kein Hobby, kein Wohlfühlsystem zur Abwehr des Unerklärlichen.
Keine Trost spendende Herberge. Keine erregende
Mystery-Erfahrung.

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Ich finde, Glaube muss was abkönnen.

Und genau deshalb werde ich mein Denken nicht zum Schweigen
verurteilen und auch meine Verzweiflung nicht. Ich werde mein
Entsetzen sezieren wie ein Chirurg und diese schreckliche Wunde
nicht zunähen, ohne das Geschwür entfernt zu haben: Und ich
werde die Augen nicht verschließen vor dem, was ich zu sehen
bekommen werde. Eine Operation am offenen Herzen. Patient
und Chirurg in einem.

Schreckliches Experiment.

Ich setze mich auf, rücke mein gestärktes Kissen zurecht. Mein
Rücken schmerzt. Bei jeder Bewegung quietscht das Krankenhausbett
– armseliger Refrain in einem öden Lied. Und der Blick
aus dem Fenster auf die fernen Baumwipfel ist mittlerweile nur ein
bitterer Trost. Diesen Frühling, den neunundzwanzigsten meines
Lebens, werde ich nur von ferne betrachten, er wird ohne mich
stattfinden, mögen die Vögel noch so sehr singen. Ihre Lieder erfreuen
mich nicht. Im Gegenteil: Sie führen mir schmerzlich vor
Augen, dass mir diese naive Freude geraubt wurde, dass ich nichts
mehr zu besingen habe. Mir bleiben nur Klagelieder. Aber Klagelieder
will keiner hören.

Auch das Blau des Himmels an sich ist für mich kein Argument,
sich zu freuen. Es ist schon lange nichts als eine willkürliche
Wellenlänge, für die mein Hirn keine Übersetzung mehr findet.
Kein Synonym mehr für Freude und Weite.

Ich öffne die Blechschublade des Nachtschränkchens, fische das
lederne Notizbuch unter meiner Bibel hervor, ziehe den Kugelschreiber
heraus und notiere:

Vier Möglichkeiten, um zu erklären, wieso geschehen konnte, was geschehen
ist.

Erstens:
Es gibt keinen Gott.
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Darf ein Christ diesen Gedanken zulassen? Oder ist das das eine
Tabu, das man keinesfalls antasten sollte? Der einzige Pfad, den
man nicht einschlagen darf, weil er ins Verderben führt? Weil es
eben Grundsätzliches gibt, das anzuzweifeln den geistlichen Tod
bedeutet? Ich weiß es nicht.

Setze mich im Bett auf, entwirre zum x-ten Mal den Schlauch,
durch den die wässrige Flüssigkeit tropft. Vielleicht nehmen sie
ihn morgen ab oder nächste Woche.

Ich will nicht am Tropf hängen. Ich will auch nicht im Krankenhaus
liegen. Ich will nicht, dass das, was sie unter sorgsamem Verband
verbergen, wahr ist. Und auch all das andere nicht. Denn
wenn es wahr ist, ist das vielleicht der Beweis dafür, dass es Gott
nicht gibt.

Aber ich kann nicht glauben, dass „Erstens“ zutrifft. Es muss
einen Gott geben.

Denn wie sollte man die Fotosynthese erklären oder den Hormonhaushalt,
das Paarungsverhalten der Libellen oder die Tatsache,
dass die Bäume im Herbst vertrauensvoll ihr ganzes Kleid
dem Wind übergeben?

Nein – es muss einen Gott geben.

Aber vielleicht – und damit bin ich bei zweitens – mischt Gott
sich nicht ein. Schöpfung fertig, nächstes Thema.

Also zweitens:
Gott existiert, aber er kümmert sich nicht um uns.
Möglich wäre das.

Dann wäre ich all die Jahre meines Christseins einem Selbstbetrug
aufgesessen. All das, worin ich Gottes Wirken und Reden
zu erkennen geglaubt habe, wäre nichts als eine Lüge gewesen. Erlösung,
Frieden, Gottes Gerechtigkeit, sein Reden, alles ein Lügensystem,
dem ich meine Erfahrungen angepasst habe, um es
durch geschickte Deutung mühsam aufrechtzuerhalten. Man fin
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det immer eine Möglichkeit zu erklären, warum Dinge so laufen,
wie sie laufen. Das menschliche Gehirn kennt diesen Reflex, sich
ein Weltbild zu erschaffen und alles für dessen Erhalt zu opfern.
Alle Menschen tun das.

Denn wer will schon den Boden unter den Füßen verlieren?
Jeder findet sein Weltbild durch das, was er erlebt, bestätigt. Und
alles, was dieses Bild gefährden könnte, wird verdrängt, verleugnet,
verbannt, vergessen.

Dabei habe ich mein Leben lang die Wahrheit gesucht, mich nie
mit leerer Poesie abspeisen lassen. Habe all die Zeit alle Erklärungen
wieder und wieder abgestreift, bis endlich dieser innere Friede
gekommen war, als ich die Wahrheit gefunden zu haben glaubte.
Damals habe ich mich zu Gott bekehrt. Und zwar nicht, weil der
Glaube an Gott tröstet oder einem Menschen hilft. Trost ist schön
und gut, Hilfe auch, aber für mich kein Argument, schon gar kein
Beweis. Andere finden Trost und Hilfe woanders. Ich will keinen
Trost, ich will Wahrheit.

Wenn das Evangelium also den Fragen nicht standhält, dann will
ich seinen Trost, seine Hoffnung, seinen Frieden nicht. Weil ich die
Lüge als solche verabscheue, mag sie noch so köstlich schmecken.

Ich habe dem Evangelium geglaubt und mein Fürwahrhalten
bestätigt gefunden bis zu dem Moment, wo es keinen doppelten
Boden mehr gab, kein Ersatzerklärungsmodell, keinen Plan B.

Ich habe gegen jede menschliche Vernunft Gott vertraut. Ich
habe das getan, was er mir gesagt hat. Ich habe mich voller Zuversicht
in Gottes Arme fallen lassen.

Doch er hat seine Arme weggezogen.

Und ich bin ins Bodenlose gestürzt.

Der Moment, in dem mein Geschick, Dinge durch mein Glaubenssystem
zu erklären, daran scheitert, dass ich alles auf eine Karte
gesetzt habe.

Kein weiteres Ass im Ärmel.

Dann wäre das hier die Stunde der Wahrheit.

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Doch wenn der Fels in der Brandung zerfällt, dann will ich lieber
ertrinken, als weiterzuleben. Ich will nicht an eine Planke geklammert
durch einen sinnlosen Ozean treiben und behaupten, ich hätte
einen Kontinent entdeckt. Warum sollte ich denn leben wollen?
Wofür? Wenn Gott meinem Leben keinen Sinn gibt, hat es keinen.
Und wenn es keinen Sinn hat, wozu dann aufstehen, wozu
einen einzigen Tag leben, wenn es nirgendwo hinführt? Wenn alles,
was ich tue, beliebig ist und mit dem Tod willkürlich endet.

Ich drehe meinen Kopf Richtung Monitor, betrachte die eilige
Linie, die immer die gleichen steilen Gipfel emporschießt, hinab-
stürzt, emporeilt, hinabstürzt. Verlogenes Protokoll meines Herzschlages,
denn ich spüre nur das Abstürzen.

Ich bin froh, dass ich ein Einzelzimmer habe, denn wie sollte ich
jemandem all die vielen Tränen erklären? Überhaupt: Wie könnte
ich jemandem mein Problem begreiflich machen? Denn wenn es
Gott nicht gebe und sein Versprechen an mich nicht, dann hätte
ich kein Problem. Dann wäre es einfach Pech, was passiert ist –
wahrlich kein Grund zu verzweifeln.

Mein Problem ist, dass ich mich an Gott gehängt und ihm vertraut,
dass ich seinem Reden geglaubt habe. Ich kann das nicht
denken, aber alles sieht danach aus, als habe er sein Versprechen
nicht gehalten.

Ich bin an Gott zerbrochen.

Jetzt weinen meine Augen wieder. Sie sind die Einzigen, die diesen
Verrat verkünden. Ich selber schweige. Wem sollte ich meine
Gedanken denn auch mitteilen? Wer könnte ertragen, dass ich an
dem rüttle, was das Fundament des Lebens ist?

Glaubensgeschwister? Sie versuchen mich zurückzuhalten. „So
darfst du nicht reden! Du versündigst dich!“

Ich bin radikal. Von Radix, die Wurzel. Erst haben sie mich dafür
bewundert, jetzt sind sie entsetzt. Denn wer die Wurzel raus-
zieht, tötet die ganze Pflanze. Und davor haben sie Angst, dass der
Baum des Lebens verwelken könnte. Deshalb schweige ich.

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Und die anderen, die, die nicht an Gott glauben? Sie würden sich
selbstzufrieden zurücklehnen: Siehst du, sagten wir’s dir nicht
schon immer, dass Glauben nichts ist als Opium?

Wenn Glauben Opium ist, hatte ich eine Überdosis. Vielleicht
werde ich an dieser Überdosis sterben. Aber noch, noch kämpfe
ich. Ich kämpfe dafür, Gottes Ruf wiederherzustellen. Ich weiß,
das ist Unsinn, aber …

Also drittens:
Wenn es Gott gibt und wenn er zu uns redet, vielleicht habe ich ihn
dann einfach falsch verstanden.
Das wäre allerdings schlimm, denn wenn es mir nicht gelingt, Gott
zu folgen, obwohl ich es von ganzem Herzen begehre, wie soll ich
dann leben? Überhaupt: Was wäre das für ein Gott, der sich nicht
verständlich machen kann denen, die ihn hören wollen?

Bleibt also viertens:
Gott existiert. Und er redet. Und ich habe ihn richtig verstanden.
Und trotzdem ist nicht passiert, was Gott mir zugesagt hat.
Und genau das ist mein Problem.
Mein Kopf schmerzt. Ich lasse mich unter die Decke rutschen,
stelle mich schlafend, als die Schwester kommt und fröhlich verkündet:
„Oh, der Tropf ist ja schon durchgelaufen.“

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